18. Dezember 2017

Heute haben wir eine kleine Weihnachtsgeschichte für Euch ...

Weihnachtswundernadeln

Es ist ein wunderschöner, stiller Wintermorgen. Über Nacht hat es geschneit, so dass der ganze Wald weiß glänzt. Ein freches Eichhörnchen erfreut sich an dem weichen, glitzernden Pelz. Es springt auf der Tanne hin und her, rauf und runter und weckt so nach und nach alle dunkelgrünen Nadeln aus ihrem sanften Schlummer. Die eine oder andere setzt zu einem "Was soll ..." oder "Unversch..." an, aber bis irgendeine Beschwerde über die schlaftrunkenen Lippen kommt, ist das Eichhörnchen längst wieder weg.
Die Ruhe wird durch einen dumpfen Laut unterbrochen, der vom Baumstamm kommt. Ein leichtes Zittern geht durch die Nadeln - so etwas haben sie noch nie gehört. Noch einmal und noch einmal – was das wohl sein mag? Keine wagt zu fragen. Plötzlich kommt die Welt aus dem Gleichgewicht. Der Boden kommt immer näher und vor Aufregung knacksen und knistern alle durcheinander. Ein einziger dumpfer Laut des Stammes genügt, um wieder Stille eintreten zu lassen. Die Welt hat sich wieder beruhigt, aber der Boden ist viel näher, als gewohnt – und einige der Nadeln haben sich aus der Lebensgemeinschaft Tanne gelöst. Der Baumstamm ist alt und weise – keiner wagt es, seine Ruhe zu stören. Aber ein paar vorwitzige Jungnädelchen können es doch nicht lassen und fragen aufgeregt raschelnd, was denn passiert sei und – viel wichtiger – was noch passieren würde.
Noch bevor der Baumstamm eine Antwort brummen kann, bewegt sich die Welt erneut. Wieder knacksen und knistern alle durcheinander und kommen nicht eher zur Ruhe, als dass der Baumstamm einen weiteren dumpfen Laut von sich gibt.

Noch ein paar dumpfe Laute vom Baumstamm und alles ist still. Auf einmal werden komische Dinge auf die Zweige gestreift und seltsame, bunte und schwere Kugeln an die Zweige gehängt. Einzelne Nadeln, die dabei etwas unsanft behandelt werden, stellen sich auf – werden aber sanft und leise vom Baumstamm ermahnt: "Könnt Ihr Euch nicht angemessen benehmen?". Und als alle still abwarten, beginnt der Baumstamm endlich zu erklären:
"Ihr kennt ja alle die Zweibeiner, die sich im Wald immer so furchtbar ungeschickt und laut polternd bewegen. Im Winter und zwar immer wenige Tage nach der Wintersonnwende, also wenn die Tage noch ganz kurz sind und die Zweibeiner draußen nicht viel arbeiten können, feiern sie in ihren Häusern ein großes Fest. Zu diesem Fest holt sich jede Familie einen immergrünen Baum, meist eine Tanne, als Gast in ihr Haus. Früher glaubten die Zweibeiner, sich dadurch Gesundheit ins Haus zu holen, da immergrüne Pflanzen ihrer Meinung nach Lebenskraft verkörperten, heute ist das nur noch ein alter Brauch. Und so wurden auch wir in diesem Jahr ausgewählt, bei einer Familie als Gast an diesem großen Fest teilzuhaben. Deshalb befinden wir uns jetzt hier in diesem warmen Haus und nicht mehr im Wald an der frischen Luft."
"Aber was ist das für Zeug, das sie an uns gehängt und festgeklemmt haben? Ich bin schon ganz verbogen!" fragt eine der Nadeln, die unglücklicherweise von einer der schweren Kugeln erwischt wurde.
"Das ist ein Gastgeschenk für uns: so wie sich die Zweibeiner für ihr Fest fein herausputzen, schmücken sie auch uns Tannen - so wie sie das eben hübsch finden. Früher hängten sie meist irgendwelche Süßigkeiten an die Tannenzweige, die in hübschen Motiven - zum Beispiel als Tiere, Spielzeug oder Früchte - geformt waren. Diese wurden dann nach und nach im Lauf der Festtage weggefuttert - meist von den kleineren Zweibeinern, die sich darüber besonders freuten! Später wurde der Schmuck dann aus Papier, Stroh oder Watte gefertigt. Seit etwas mehr als 150 Jahren gibt es speziellen Schmuck aus Glas, meist in der Form von farbigen Kugeln, aber es gibt auch Glocken und andere Formen. Vermutlich hängt eine dieser Kugeln an Deinem Ast und drückt auf Dich. Oder ein Zweibeiner hat in Deiner Nähe eine Lampe angeklemmt - das sehen wir dann, wenn die Bescherung beginnt und die Lampen eingeschaltet werden."
"Was ist denn eine Lampe?" möchte eine andere Nadel wissen.
"Lampen sind so etwas wie kleine Sterne. Früher haben die Zweibeiner dafür Kerzen verwendet, winzige Feuerstellen. Heute funktionieren diese Lampen mit Elektrizität - das ist so etwas wie ein Blitz bei einem Gewitter, nur viel kleiner und kontrolliert."
Auch von einer Bescherung haben die Nadeln noch nie etwas gehört, also erklärt der Baumstamm geduldig weiter:
"Ein wichtiger Teil des großen Festes ist es, sich gegenseitig Geschenke zu machen - insbesondere den kleinen Zweibeinern. Diese Geschenke werden mit dem Namen des Empfängers versehen und unter uns aufgebaut. Bei der Bescherung darf dann jeder seine Geschenke zusammensuchen und öffnen."
"Aha, und wir stehen hier einfach als Deko blöd rum oder wie?" fragt eine der jüngeren und leicht aufmüpfigen Nadeln nahe der Tannenspitze.
"Na, na," rügt der Baumstamm das freche Nädelchen. "auch das Fest für die Zweibeiner zu schmücken ist eine wichtige Aufgabe. Aber wir haben auch noch eine andere Aufgabe: Es ist unsere Aufgabe, die Zweibeiner immer an das große Fest zu erinnern. Nach dem Fest werden wir wieder aus dem Haus weggebracht und irgendwann wird sich unsere Lebensgemeinschaft dann auflösen. Es wäre gut, wenn sich möglichst viele von Euch kurz davor aus der Lebensgemeinschaft lösen und bei unseren Gastgebern hier verstecken würden. Wenn Euch unsere Gastgeber dann immer mal wieder so nach und nach finden, werden sie wieder an die Magie ihres großen Festes erinnert - und Ihr habt Eure Aufgabe besonders gut gemacht. Aber Ihr müsst aufpassen, dass Ihr Euch nicht zu früh aus der Lebensgemeinschaft löst, da uns die Zweibeiner gerne lange als vollständige Tanne bei sich haben möchten."
Eine Nadel holt gerade Luft, um noch etwas zu sagen, aber der Baumstamm kommt Ihr zuvor: "So, und jetzt bitte alle ganz still! Die Bescherung beginnt!"

Urs scribendi